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Laura Sommer - 01 Wanzen und Paranoia

Ich saß mit Emma auf der Mauer, die das Schulgelände begrenzte und stopfte mir noch eine Hand voll Chips in den Mund. Kauend redete ich weiter: „Und dann ist er aus dem Bus gestolpert und fast gegen die Mauer gerannt!“ Sie kicherte. Wie ich genoss sie die wenigen Momente Freizeit, die wir hatten. Allein die Unterrichtszeit hier war schon lang. Gemeinsam mit den Busfahrzeiten und den Hausaufgaben blieb einem da nicht mehr allzu viel. Aber wir hatten eine gemeinsame Freistunde und die verbrachten wir immer zusammen. Erst gingen wir in den Supermarkt auf der anderen Straßenseite und anschließend saßen wir auf der Mauer und redeten.

Obwohl ich wusste, dass sie nicht die ideale Freundin für mich war, kam sie dem doch recht nahe, weil sie zumindest Spaß verstand und sie nicht nur über die üblichen Mädchenthemen redete.

Plötzlich verstummte sie und sah mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. Sie wirkte auf einmal beunruhigt. „Laura?“

„Ja?“, erwiderte ich.

„Dieses Auto da drüben. Der silberfarbene Seat…“

„Ja?“

„Stand der nicht schon letzte Woche da?“

Ich zwang mich zu einem Lachen. „Ach Emma“, sagte ich, „der steht bestimmt immer hier. Vielleicht wohnt der irgendwo in der Gegend.“

Ich schaute sie an, um zu sehen, ob sie mir das abkaufte, doch sie schaute zu dem Wagen: „Aber es sitzt jemand darin!“

Ein kurzer Blick zu dem Seat bestätigte, dass er getönte Scheiben hatte. „Woher willst du das denn wissen?“

„Weil er heute Morgen an uns vorbei gefahren ist und dort geparkt hat. Und wenn der Fahrer ausgestiegen wäre, würde dieses Band da nicht mehr heraushängen!“

Ich sah erneut zu dem Wagen. Tatsächlich schaute aus der Fahrertür unten etwas heraus. Es sah aus wie von einem Rucksack.

„Verfolgt der uns etwa?“, fuhr Emma fort.

„Du liest zu viel Sherlock Holmes!“, meinte ich bloß.

Natürlich verfolgte uns der Wagen. Oder besser gesagt mich. Aber das konnte ich Emma unmöglich erzählen. Zum einen hätte sie mir nicht geglaubt und zweitens vermutete ich, dass wir auch belauscht wurden.

Diese ganze Sache hatte mit einer Wanze begonnen.

 

Unter keinen Umständen durften meine Eltern diesen Ordner finden, in dem ich all meine Projekte abheftete. Meine Gefühle und Gedanken waren das Einzige, was mir noch geblieben war. Das Einzige, was nur mir gehörte und sie nicht kontrollieren konnten – zumindest noch nicht. Und ich wollte, dass das so blieb. Ich hatte mir also in der Stadt einen Ordner gekauft und ihn in mein Zimmer geschmuggelt. Und jetzt, in der Nacht, hatte ich zunächst gewartet, bis meine Eltern schliefen. Die meisten meiner Verstecke habe ich bereits ausgeräumt, doch zwei blieben noch. Alle losen Zettel mit Ideen, Gedichten, Gedanken und Plänen waren nun sortiert abgeheftet. Jetzt fehlten noch die Notizbücher, die ich einfach in den Ordner mit hineinlegte. Jetzt brauchte ich nur noch einen Ort, an dem ich den Ordner verstecken konnte. Ich hatte mir schon einige Möglichkeiten überlegt. Zuerst krabbelte ich unter meinen Schreibtisch, um zu schauen, wie weit ich meinen Schubfachschrank nach vorn schieben konnte. Ich erinnere mich noch genau, wie ich beschloss, es erstmal woanders zu versuchen, weil ich Angst hatte, es könnte auffallen, als ich eine Unebenheit im Holz bemerkte. Ich hielt inne und schob den ganzen Schrank nach vorn. Beinahe wäre dabei eines der Schubfächer rausgefallen, doch ich konnte es noch rechtzeitig festhalten. Angestrengt lauschte ich, ob meine Eltern vielleicht wach geworden waren, doch es blieb ruhig. Mit meiner Taschenlampe leuchtete ich auf die Stelle, die mir aufgefallen war. Dort sah auch das Holz etwas anders aus. Ich tastete daran herum und stellte fest, dass diese Stelle überklebt war. Vorsichtig löste ich den Kleber – und unterdrückte einen überraschten Laut.

In das Holz war ein Hohlraum geschnitten worden, in dem ein kleines Gerät angebracht war. Eine Wanze. Mein erster Impuls war, das Ding herauszureißen und kaputt zu machen. Ich hatte es bereits in der Hand, als ich es mir anders überlegte. Meine Eltern waren manipulativ und kontrollsüchtig, aber ich glaubte kaum, dass sie eine Wanze in meinem Zimmer anbringen würden. Besonders, da sie dazu an allerlei Orten herumgewühlt hätten und irgendwelche Gedichte oder Geschichten gefunden hätten, wegen denen ich zur Rechenschaft gezogen worden wäre.

Also musste jemand anderes diese Wanze angebracht haben.

Vorsichtig legte ich das Ding auf den Tisch, versteckte schnell meinen Ordner und setzte mich dann auf meinen Stuhl. Ich ließ einige Momente verstreichen. Dann hob ich den kleinen, schwarzen Sender auf und hielt ihn ein kleines Stück vor meinen Mund… Und begann flüsternd, meine zuvor überlegten Worte ruhig, aber deutlich vorzutragen:

„Ich habe eines eurer Abhörgeräte gefunden, also weiß ich, dass diese Nachricht bei euch ankommen wird. Ich weiß nicht, wer ihr seid. Sicher nicht die Polizei, die dürfen sowas nicht so einfach. Aber ich bilde mir ein, dass ich nicht das Hauptziel eurer Spionage bin. Was auch immer meine Eltern euch getan haben – ich versichere euch, dass ich mehr unter ihnen leide und genug Gründe habe, euch unter bestimmten Bedingungen behilflich zu sein. Da ihr mich sicher überwacht, wisst ihr, wann ich allein bin und wie ihr mich erreichen könnt. Sollte ich innerhalb von 14 Tagen keine Antwort von euch erhalten, werde ich diese Wanze der Polizei übergeben und meinen Eltern von der Sache erzählen. Ihr solltet wissen, dass ich zu meinem Wort stehe.“

Dann wickelte ich den Gegenstand in ein T-Shirt von mir, steckte es in eine Tüte und verstaute es ganz hinten im Schrank, wo meine Mutter nicht nachschauen würde.

 

Und nun, 12 Tage später, bemerkte Emma, dass wir beobachtet wurden – oder genauer ausgedrückt: Ich wurde beobachtet. Wahrscheinlich lief das schon eine ganze Weile so und es war uns nur noch nicht aufgefallen. Ich drehte mich ständig um, seit ich die Wanze gefunden hatte. Mir war klar geworden, dass ich nicht paranoid war – und falls doch, dass dieses häufige Gefühl, beobachtet zu werden, zumindest nicht daher stammte.

Warum fiel meiner Freundin gerade jetzt so etwas auf? Spürte sie, dass ich meine Umwelt jetzt mehr beobachtete und war selbst aufmerksamer? Oder redete ich mir das etwa nur ein?

Ich hatte in meinem Zimmer noch zwei weitere Wanzen entdeckt. Natürlich hatte ich es durchsucht. Auch im Wohnzimmer und in der Küche war ich fündig geworden, doch ich hatte sie an ihrem Platz gelassen. Es war ein seltsames Gefühl, zu wissen, dass jemand zuhörte. Aber irgendwie kam es mir jetzt sicherer vor. Wenn ich wieder angeschrien und bedroht wurde oder meine Mutter mir einen Schlag auf den Hinterkopf oder eine Schelle verpasste oder mich so fest an der Schulter packte, dass es Blutergüsse gab, wusste ich nun, dass ich nicht allein war. Ich hatte die Hoffnung, dass vielleicht jemand nahe genug war und hilfsbereit genug, im Ernstfall einzugreifen. Also wenn tatsächlich mal Lebensgefahr bestehen würde.

 

Es klingelte zur Pause. Emma und ich ließen uns noch ein bisschen Zeit, verstauten die Chips bei dem anderen Süßkram im Rucksack und gingen dann zum Unterricht. Noch eine Stunde Mathe, dann war Schule für diese Woche vorbei. Da wir in Geschichte und Biologie gemeinsame Projekte hatten, durfte ich an diesem Wochenende bei Emma übernachten.

Natürlich hatte ich beim Beschreiben des Arbeitsaufwands gegenüber meiner Eltern übertrieben. Um ehrlich zu sein hatten wir das meiste schon fertig, da wir in den entsprechenden Stunden überschüssige Arbeitszeit genutzt hatten und in Freistunden ebenfalls bereits Dinge besprochen hatten. Wie wir uns bereits überlegt hatten, fingen wir – kaum bei Emma angekommen – direkt mit der Arbeit an den Hausaufgaben an und waren noch am selben Abend mit allem fertig. Erschöpft schaute ich auf die Uhr. „23 Uhr“, stöhnte ich. Emma nickte nur. Sie schlief schon beinahe im Sitzen ein. Schnell packten wir unsere Schulsachen für Montag, damit wir die folgenden 2 Tage tatsächlich frei hatten. Dann gingen wir auch schon ins Bett und schliefen beinahe sofort ein.

 

Als ich aufwachte, war es noch mitten in der Nacht. Die Uhr zeigte irgendetwas zwischen 1 und 2 Uhr. Trotzdem war ich hellwach. Ich sah zu Emma hinüber, die noch im Tiefschlaf war.  Eine Strähne ihres dunkelblonden Haares war ihr ins Gesicht gefallen und lag quer über ihrem Auge. Sie atmete ruhig und gleichmäßig. Uns umgab Stille. Ich fragte mich, was mich geweckt haben könnte und schaute mich um. War das Fenster vorhin schon offen gewesen? Ich wusste es nicht. Zu Hause schlief ich oft mit offenem Fenster. Im dritten Stock mit Bäumen vor dem Fenster konnte niemand hineinsehen oder gar einbrechen oder hätte dabei so laute Geräusche gemacht, dass ich davon wach geworden wäre. Ich stand auf, als der Wind die Vorhänge verwehte. Er war kühl, für mich nicht unangenehm, doch Emma fror leichter als ich, also beschloss ich, das Fenster zu schließen. Aber draußen war etwas. Ein Licht, doch es gehörte nicht zu einer Straßenlaterne. Dann ging es aus. Ich zuckte mit den Schultern und wollte wieder im Bett verschwinden, als ich den Zettel sah. Ein kleiner Stein lag darauf und irgendetwas war darauf gemalt, doch ich wusste nicht, was es darstellen sollte. Vorsichtig faltete ich den Zettel auseinander und leuchtete mit meinem Handy darauf.

 

Laura Sommer,

 

Wir haben dein Anliegen und dein Angebot zur Kenntnis genommen, doch ebenso die Drohung. Wir möchten dich bitten, von undurchdachten Handlungen abzusehen und einem Treffen zuzustimmen.

Wir sind bereit zu Verhandlungen. Weitere Instruktionen folgen.

 

Ihr Ansprechpartner – Jonathan Watt

 

Einen Moment lang tat ich gar nichts, doch dann zog ich rasch etwas an. Bevor ich Emmas Schlüssel vom Schreibtisch nahm und ging, strich ich meiner Freundin noch die Strähne aus dem Gesicht.

 

Nachtspaziergang – sorry!!!

 

Notierte ich schnell auf meinem Notizblock und legte ihn neben sie.

Wie sollte ich das erklären, falls sie aufwachte? Egal, ich hatte keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen. Kaum war ich draußen, beschleunigte ich auch schon meine Schritte. Ich war froh darum, leise laufen zu können, was ich zum Teil meinen Schuhen verdankte. Ich hielt nichts von dem ganzen Trubel um Mode und Absätzen, sondern trug bequeme Sachen.

Ich sah jemanden in der Dunkelheit und vermutete, nein, ich hoffte sogar, dass es dieser Jonathan war. Oder wie auch immer er wirklich hieß. Keiner war so dumm, auf diese Art von Brief seinen richtigen Namen zu schreiben – oder etwa doch? Jedenfalls hatte derjenige das gut vorbereitet. Der Text war am PC geschrieben und ausgedruckt worden. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass ich ihm folgen würde. Ich ging noch ein wenig schneller, obwohl meine Lunge bereits brannte. Ich verfluchte meine geringe Ausdauer, hielt aber nicht an. Ich wollte wissen, was das sollte und worum es diesen Leuten überhaupt ging. Ich hatte keine Lust, mich vertrösten zu lassen und wer weiß wie lange zu warten. Ich wollte wissen, mit wem ich es zu tun hatte. Wer einfach so in unsere Wohnung und in das Haus von Emma kam.

Einen Moment lang hatte ich Zweifel daran, ob es so gut gewesen war, ihnen meine Hilfe anzubieten. Wer weiß, worauf ich mich da eingelassen hatte! Doch wie sollte ich damit sonst umgehen? Glaubte mir die Polizei wirklich, wenn ich erzählen würde, in unserer Wohnung wären Wanzen versteckt?

Zur Sicherheit hatte ich eine der Wanzen aus meinem Zimmer immer in meinem Schulrucksack. Doch selbst damit wusste ich nicht, ob die Polizei da etwas tun konnte. Und meine Eltern würden mir nur wieder vorwerfen, ich hätte das selbst dort angebracht – und was sie dann mit mir tun würden, wollte ich mir nicht vorstellen. Also blieb mir ja kaum eine Wahl.

Ich war dem Mann nun näher. Er wandte sich zu mir um und fing dann an, zu rennen. Ich sah, dass er etwas in der Hand hielt und hörte, dass er etwas sagte, doch ich verstand nicht, was. War das ein Funkgerät? Ich rannte nun ebenfalls. Mir tat nun der gesamte Brustkorb weh. Ich ignorierte den Schmerz und versuchte, noch etwas schneller zu machen. Ich hatte ihn fast. Plötzlich hörte ich ein Auto, Reifen quietschten. Ich hatte keine Zeit, mich umzudrehen, wenn ich diesen Kerl erwischen wollte. Ich hörte Schritte hinter mir. Dann riss mich jemand zurück und hielt mir etwas vor den Mund. Ich wehrte mich, trat, schlug, biss – doch ich fühlte mich plötzlich ganz schwach. Ich realisierte, dass ich ohnmächtig werden würde, holte noch ein paar Mal aus… und gab dann auf.

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Kommentare: 1
  • #1

    Hartmut Spengler (Sonntag, 11 Februar 2018 16:52)

    Ich will endlich wissen, wie es weiter geht!!!